Der Rabe und der Fuchs

Im Baume drin, da saß ein Rabe
mit einem Stückchen Käse,
das hielt er sorgsam fest im Schnabel,
damit er es gleich fräße.
Da kam der Fuchs, gelockt vom Duft,
der um den Käse strich.
er hielt die Nase in die Luft
und sprach sehr schmeichlerisch:
"Herr Rabe, Oh! wie schön ihr seid!
Ihr seid des Waldes Zier
mir Eurem edlen Federkleid.
Und sicher seid auch ihr
der allerbeste weit und breit,
als Sänger hier im Wald!"
Der Rabe sperrt den Schnabel weit
und krächzte, dass es schallt,
wobei den Käse er verlor,
den fraß der Fuchs sogleich
und sprach zum Raben: "Seht, Senior,
so wird der Schmeichler reich
durch den, der seinen Worte glaubt,
als ob‘s die Wahrheit wäre.
Den Käse nehm‘ ich, Ihr erlaubt,
als Preis für diese Lehre."


© Ralf Schauerhammer


Original
Le Corbeau et le Renard

Maître Corbeau, sur un arbre perché,
Tenait en son bec un fromage.
Maître Renard, par l’odeur alléché,
Lui tint à peu près ce langage :
"Hé ! bonjour, Monsieur du Corbeau.
Que vous êtes joli ! que vous me semblez beau !
Sans mentir, si votre ramage
Se rapporte à votre plumage,
Vous êtes le Phénix des hôtes de ces bois."
A ces mots le Corbeau ne se sent plus [orig.: pas] de joie ;
Et pour montrer sa belle voix,
Il ouvre un large bec, laisse tomber sa proie.
Le Renard s’en saisit, et dit : "Mon bon Monsieur,
Apprenez que tout flatteur
Vit aux dépens de celui qui l’écoute :
Cette leçon vaut bien un fromage, sans doute."
Le Corbeau, honteux et confus,
Jura, mais un peu tard, qu’on ne l’y prendrait plus.



Vorlage von Äsop: Rabe und Fuchs

Ein Rabe hatte einen Käse gestohlen, flog damit auf einen Baum und wollte dort seine Beute in Ruhe verzehren. Da es aber der Raben Art ist, beim Essen nicht schweigen zu können, hörte ein vorbeikommender Fuchs den Raben über dem Käse krächzen. Er lief eilig hinzu und begann den Raben zu loben: "O Rabe, was bist du für ein wunderbarer Vogel! Wenn dein Gesang ebenso schön ist wie dein Gefieder, dann sollte man dich zum König aller Vögel krönen!"

Dem Raben taten diese Schmeicheleien so wohl, daß er seinen Schnabel weit aufsperrte, um dem Fuchs etwas vorzusingen. Dabei entfiel ihm der Käse. Den nahm der Fuchs behend, fraß ihn und lachte über den törichten Raben.



Eine neue Wendung gibt der Fabel Gotthold Ephraim Lessing

Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner für die Katzen seines Nachbars hingeworfen hatte, in seinen Klauen fort. Und eben wollte, er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbeischlich und ihm zurief: "Sei mir gesegnet, Vogel des Jupiters!"

"Für wen siehst du mich an?" fragte der Rabe. "Für wen ich dich ansehe?" erwiderte der Fuchs. "Bist du nicht der rüstige Adler, der täglich von der Rechten des Zeus auf diese Eiche herabkommt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue die erflehte Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken noch fortfährt?"

Der Rabe erstaunte und freute sich innig, für einen Adler gehalten zu werden. Ich muss, dachte er, den Fuchs aus diesem Irrtum nicht bringen. - Großmütig dumm ließ er ihm also seinen Raub herabfallen und flog stolz davon.

Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß es mit boshafter Freude. Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl; das Gift fing an zu wirken, und er verreckte.

Möchtet ihr euch nie etwas anders als Gift erloben, verdammte Schmeichler!