Miss Amerika

Dir stockt der Atem. Sie erscheint!
Du merkst, wo sie auch geht und steht,
erstrahlt für sie das Rampenlicht.
Wie sie den Kopf zur Seite dreht
und huldvoll lächelnd spricht!
Wie sie Begehrlichkeit verbreitet,
mit jeder Geste, jedem Wort,
mit ihrer Zauberkraft es schafft
die Attraktion zu sein,
die dich und andere betört.
Sie fesselt deinen Blick –
er würde, würde…

Doch plötzlich diese Hürde,
sie stößt zurück,
weil Dissonanzen sie heraufbeschwört,
wie etwas, das fast ungehört
sich in die Sinne zwängt,
zum Überdenken drängt,
dich zwingt, nun nochmals hinzusehen,
zu fragen, ob des Kopfes Drehen
nicht doch ein wenig eitel ist,
ob du in ihren Augen nicht vermisst,
was Leben ist und Leben spendet,
ob nicht an ihrem Makeup endet,
was Grazie von innen her nur spendet –
dich zwingt, noch einmal hinzuschauen.

Dich packt das Grauen,
denn plötzlich siehst du, siehst,
wie aus der Haut, aus kleinen Rissen,
Vergänglichkeitsermatten sprießt,
ein Stoff, der Würmern Nährstoff schafft.
Du siehst, dass eine Wunde klafft,
die sich nicht übertünchen lässt.
Sie ist Fassade, nur ein Rest
von dem was einstmals war.
Du merkst, die Augen sind sogar
nur Fensterrahmen ohne Scheiben,
die in Ruinen übrig bleiben.

Du stehst versteinert da
verstehst nicht, was geschah.
Du denkst zurück.
War sie nicht einst das Glück,
der Menschheit Ideal,
die Hoffnung einer bessren Zeit?
Ein Leuchtturm, der so zukunftsweit
das Licht der Freiheitsfackel trug?
So aufgeklärt und klug!
Und selbst der Weltraum stand ihr offen!
Vor kurzem war es noch, als es dich dünkte,
dass sie sich ewig selbst verjüngte.
Weil sie ein Ideal regierte,
das allen Gleichheit garantierte.
Es sagte, jedem sei gegeben
das unveräußerliche Recht auf Leben,
auf Freiheit und sogar das Streben
nach Wohlstand und Glückseligkeit.

Es war einmal.
So war das Hoffen.
Der Glaube schwand, und mit der Zeit
bestimmte alles Nützlichkeit
und Pragmatismus und Kommerz.
Das Ideal verlor das Herz.
Es blieb die Hülle, die noch steht,
die nur mechanisch weitergeht,
weil die Vergangenheit noch treibt,
was von dem Damals übrig bleibt;
selbst der Kredit ist schon verspielt.
Und ihr Verblassen gibt nun Raum
für das, was einst der Menschheitstraum
für überwunden hielt.

Hervor aus dunkler Geisterzeit,
aus Gräbern, die schon überwunden
geglaubt, erscheinen nun befreit
Gespenster aus den schlimmsten Stunden
der Menschheit: Dogmen, Hass und Krieg,
von Fanatismus angefacht,
und mit archaisch, wilder Macht
sprengt Fundamentalismus seine Pferde
mit Sichelwagen in das Feld,
und keine Tugend auf die Erde,
die diesen Ansturm hält.

Ach, während die Natur versteht,
aus allem, was vergeht,
eine Neues, Schöneres zu bilden,
bleibt, was Kultur und Kunst geboren,
wenn es zerfällt, für immer uns verloren,
denn die Barbaren und die Wilden
zerstören, reißen Stein für Stein
der Menschheit Geistestempel ein.

Dir stockt der Atem. Sie erscheint!
Du merkst, zwar strahlt noch Rampenlicht,
doch siehst du ihre Seele nicht
und keine Hoffnung mehr.
Wer nahm die Zukunft, nahm das Licht?
Du fühlst dich matt und leer
und träumst, du könntest sie
auf Rosenblüten betten,
um sie durch Poesie
zu heilen, zu erretten.





© Ralf Schauerhammer