Der verborgene Schatz

Jedesmal wenn ich den Alten sehe, wie er seinen sorgsam beladenen Handwagen an der Dorflinde abstellt und ruhig, mit leicht singendem Tonfall, seine selbstgeblasenen und geschliffenen bunten Glaskugel anbietet, dann kommt mir das erstaunliche Erlebnis im Hagen-Forst wieder in den Sinn. Ich beobachte ihn gerne ein Weilchen und bin immer wieder darüber erstaunt, welch guten Absatz seine glitzernde Ware findet. Es ist nicht wegen der Schönheit der Kugeln allein; für jede weiß er eine besondere Geschichte zu erzählen, aus der es geheimnisvoll anheimelnd hervorleuchtet. Die Kinder hängen die Kugeln gerne ins Fenster und in der Kirche werden sie seit zwei Jahren als Christbaumschmuck verwandt.

Mein Erlebnis begann jedoch gar nicht so hell und erfreulich. Ich weiß noch genau, wie ich dastand, zwischen Traum und Wirklichkeit, mitten im Wald in den schwarzgekohlten Resten des Bretterhäuschens. Hier wohnte noch letzte Woche der Einsiedler. Ich wunderte mich, daß das Feuer sich im dichten Unterholz nicht weiter ausgebreitet hatte. Nur die angrenzende Brombeerhecke war verbrannt. Von dem Einsiedler war keine Spur zu sehen. Mir schauerte und dennoch konnte ich nicht einfach weggehen. Gedankenversunken begann ich, mit meinem Spazierstock in Asche und schwarzen Trümmern herumzustochern, planlos, ohne bestimmtes Ziel, aber dennoch mit der seltsamen Gewißheit, etwas Bestimmtes zu finden.

Warum blieb ich? Sollte ich nicht sofort nach Untermühlbach zurückkehren, um den Brand zu melden und eine Suche nach dem Einsiedler einzuleiten?

Untermühlbach ist eine wahre Perle, versteckt in den düsteren Hügeln des Soonwalds; eines jener wenigen unbekannten Plätzchen, wo es noch möglich ist, fernab von Lärm und Alltagsgeschäften einige Tage Ruhe zu finden. Wie in den vergangenen Jahren war es mir auch dieses Jahr gelungen, im Herbst ein paar Tage hier zu verweilen, um stundenlang durch stille Wälder und verträumte Täler zu wandern.

Die Luft war klar und kühl, und es roch zum ersten Mal nach Winter, als ich heute morgen, genau wie am letzten Dienstag, aufbrach, um meinen Lieblingsweg einzuschlagen. Er führte weitab von Landstraßen und vereinzelten Bauernhöfen auf den dicht bewaldeten Hagen-Forst. Dort wohnte der "Einsiedler", wie er von den Einwohnern in Untermühlbach genannt wurde. Sein richtiger Name muß jedoch bekannt gewesen sein, denn vor über 50 Jahren, soviel hatte ich erfahren, war er der Lehrer von Untermühlbach gewesen. Aber man nannte ihn heute nur den "Einsiedler", und jeder wußte, wer gemeint war.

Wenn die Ältesten von Untermühlbach am Stammtisch ihre Geschichten von früher erzählten, kam der "Einsiedler" oft darin vor. Wollte man ihren Erzählungen Glauben schenken, war er in seiner Jugend der beste Sänger im Kirchenchor. Er galt als verträumt und erzählte oft Märchen und Geschichten und reimte selbst lange Gedichte, welche er sonntags unter der Dorflinde vortrug. Meist hörten ihm jedoch nur wenige zu, und fast immer wurde er von derben Späßen unterbrochen, bei deren Erzählung sich die Alten immer noch, mit gellendem Lachen, auf die Schenkel schlugen.

Ich hatte auch von der Pfarrersfrau erfahren, daß seine Frau ihm bereits nach zwei Jahren "davongelaufen" war, um bei dem reichsten Bauern zu wohnen. Der Ehebruch ließ damals die Wogen der Empörung hochschlagen. Sie wurden jedoch bald übertroffen von dem allgemeinen Gelächter über den Einsiedler, der nun Nacht für Nacht mit seiner Laute vor dem reichen Bauernhof erschien und seiner eigenen Frau wehmütige Lieder sang und Nacht für Nacht seine Liebe erklärte. Die Lieder waren seit langem verstummt, ohne daß es jemandem sonderlich aufgefallen war. Der seltsame Sänger war irgendwohin verschwunden. Es gab ohnehin andere Sorgen. Der Krieg war ausgebrochen und wahrscheinlich hatte er, wie so viele andere, auch diesen Unglücksraben mit sich genommen. Erst viele Jahre später hatte ein Holzfäller die Bretterbude des Einsiedlers entdeckt. Nur wenige hatte es seither gewagt, zum Hagen-Forst hinauszugehen.

Ich selbst hatte den alten Einsiedler oft gesehen. Immer wenn ich an seinem Häuschen vorbeikam, saß er vor der brüchigen Türe. Ich rief ihm ein freundliches "Guten Tag!" zu. Er murmelte: "Grüß Euch Gott!" und musterte mich mit mißtrauischen Blicken. Das war seit Jahren unsere einzige Unterhaltung gewesen.

Am letzten Dienstag hatte ich mir, dem abweisenden Blicken zum Trotz, ein Herz genommen und den Einsiedler in ein Gespräch verwickelt. "Guten Tag, Väterchen! Wie geht's? Was macht die Kunst?", rief ich ihm mit unbekümmerter Stimme zu. Der Einsiedler erstarrte und sah mich mit großen Augen an. Ich selbst erschrak. Was hatte ich gesagt? Er schien eine Bedeutung in meinen dahingeworfenen Worten zu finden, welche ihn tief in der Seele getroffen hatte. Ein entsetzlich langes Schweigen herrschte, an dem sich der ganze Wald zu beteiligen schien.

"Ja, die Kunst?", sagte er endlich. "Die Kunst!" Seine Hand machte eine kaum wahrnehmbare Geste, welche mir andeutete, ich solle mich auf den Schemel neben der Tür setzen. "Sie sind jung und werden nichts verstehen. Aber da Sie nun ohnehin hier sind, kann ich es erzählen, einfach so, als ob ich mir selbst zuhöre. Das macht gar nichts." Dann entstand wieder eine lange Pause, welche ich niemals zu unterbrechen gewagt hätte.

"Sehen Sie dort in der Brombeerhecke das Vogelnest. Sie werden Mühe haben, es zu finden. Es gehört einem schönen schwarzen Vogel. Sie werden sagen, es ist eine Rabenkrähe. Falsch! Vielleicht sieht er so aus. Aber Sie haben die Stimme noch nicht gehört. Keiner hat sie gehört, außer mir. Der schwarze Vogel singt manchmal für mich. Er singt die herrlichsten Weisen. Wenn die Sonne untergeht, dann sitze ich oft hier und höre seine Lieder, deren Schönheit den lieblichsten Gesang der Nachtigall übertrifft. Nein, er ist keine Krähe, und ich glaube, er war auch nicht immer schwarz."

"Zuerst war ich sehr erstaunt über den Vogel. Ich habe ihn lange beobachtet. Wenn ich ehrlich bin, muß ich gestehen, daß ich alleine wegen ihm hier mein Haus aufgeschlagen habe. Es war nicht einfach, sein Geheimnis zu lüften. Sie sind jung. Sie kämen nie darauf, weil Sie nicht genug Zeit haben. Ich habe es auch lange nicht verstanden. Schließlich fiel mir auf, daß er keinen anderen Vogel, ja überhaupt niemanden, an sein Nest herankommen läßt. Der Platz im Brombeerstrauch ist sehr intelligent gewählt, sehen Sie. Es ist eine unbezwingliche Festung und er verteidigt sie auf seine Art, die ich noch bei keinem anderen Vogel gesehen habe."

"Und dann machte ich noch eine zweite Beobachtung. Wenn die Sonne ganz schräg steht, dort, unterhalb der großen Baumkrone, so daß einige Strahlen ins Nest fallen können, dann sitzt mein schwarzer Vogel auf dem Nestrand, schaut froh hinein und beginnt die herrlichsten Weisen: Manchmal lieblich und von unbeschreiblicher Trauer, aber meistens so froh und jubilierend, daß ich die ganze Nacht wach liegen muß und weinen."

"Verstehen Sie nun? Der Vogel hat einen Schatz in seinem Nest versteckt! Es ist gewiß, daß er insgeheim einen tief-funkelnden Schatz besitzt. Sie glauben mir das natürlich nicht, aber ich lege meine dafür Hand ins Feuer, daß es so ist..."

Ich sprach kein Wort. Bis zur einbrechenden Dämmerung lauschte ich den wunderlichen Geschichten des Einsiedlers, welche alle um den Vogel kreisten. Als ich dann wieder aufbrechen mußte, wurde der Einsiedler plötzlich sehr unruhig. Vor allem, als er erfuhr, daß ich nach Untermühlbach gehen würde, fragte er besorgt, warum ich denn dahin zurück wolle und er nahm mir das heiligste Versprechen ab, auf keinen Fall etwas von dem Vogel und dessen Schatz zu verraten. Das mußte ich ihm in die Hand versprechen. Ich versprach, auch in einer Woche wiederzukommen, um mich weiter mit ihm zu unterhalten.

Im Verlauf der folgenden Woche waren mir die Geschichten des Einsiedlers nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Die sonst so geschätzte Stille von Untermühlbach wurde mir zur Last, und ich wartete schon unruhig auf den kommenden Dienstag. Ich überlegte mir, ob ich mich nicht doch schon eher auf den Weg machen sollte, doch das hätte der "Einsiedler" sicher als Aufdringlichkeit gewertet. Ich war gespannt und auf Ungewöhnliches gefaßt. Doch nicht auf das, was ich hier antraf. Oder hatte ich es vielleicht doch geahnt?

Während ich mir diese Frage stellte, bemerkte ich, daß ich mich gerade gebückt hatte, um etwas Glitzerndes aufzuheben. Etwas, auf das mein Spazierstock wie von ungefähr in der Asche gestoßen war. Ich hob es auf. Es war nichts Besonderes; eine kleine Glasscherbe, mit vielen Bruchstellen, in denen sich das Licht bracht. Nichts als einen Scherbe: Ein hübsches Farbenspiel. Ich mußte nicht, ob ich sie einfach wieder wegwerfen sollte, oder ob ich sie sorgfältig aufbewahren sollte. Hatte ich etwa "den Schatz" gefunden? So fragte ich mich damals verwirrt.

Damals konnte ich nicht wissen, daß mir der "Einsiedler" bald darauf ausgerechnet in Untermühlenbach begegnen würde, mir freundlich winkend zum Gruß: "Nun, mein Freund! Was macht die Kunst?" zurufen und mir dabei eine seiner herrlichen Glaskugeln anbieten würde. Mit den Jahren sah ich mehr und mehr seiner Kugeln in den Fenstern hängen, immer dort wo das Sonnenlicht abends besonders gut darin spielen kann. Als nüchtern denkender Mensch zweifele ich selbstverständlich daran, ob seine Glaskugeln all die phantastischen Wirkungen haben, die ihnen mitunter zugesprochen werden, aber ich bin immer ganz besonders froh, wenn ich wieder eine von ihnen entdecke und betrachte sie dann ganz genau, um herauszufinden, welche neue Idee der Alte diesmal wieder hineingearbeitet hat. Ja, und wenn ich ganz ehrlich bin, dann muß ich zugestehen, daß vor solchen Fenstern die Vögel öfter und viel schöner singen.


© Ralf Schauerhammer