Sage mir, ob der Mensch gut oder böse ist - und ich sage Dir, was Du bist!

War Schiller ein Kantianer? 

Ralf Schauerhammer

„Schiller z.B. war ein gewaltsamer Kantianer, und seine Kunstansichten sind geschwängert von dem Geist der Kantschen Philosophie. Der schönen Literatur und den schönen Künsten wurde diese Kantsche Philosophie, wegen ihrer abstrakten Trockenheit, sehr schädlich. Zum Glück mischte sie sich nicht in die Kochkunst.“
Heinrich Heine „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“


Friedrich Schiller wurde oft (und nicht nur von Heine) als „Kantianer“ bezeichnet, viele behaupten, sein Denken sei „von Kant beeinflusst“ oder zumindest, er habe „seine wesentlichen Ideen durch die Beschäftigung mit Kants Werk gewonnen.“ Die Denkweise und das Menschenbild Schillers und Kants sind derart verschieden, dass man sich wundern muss, wie jemand, der die Schriften beider gelesen hat, etwas Derartiges behaupten kann. Dass ich Denkweise und Menschenbild Schillers für überlegen halte, möcht ich gleich zu Beginn ehrlich zugeben. Auch soll der Leser in diesem kurzen Aufsatz nicht den Versuch eines umfassenden Beweises dieser Behauptung erwarten. Ich möchte nur einen Wegweiser für die Untersuchung dieser Frage geben, die jeder nur für sich selbst anhand der Lektüre der Schriften von Kant und Schiller entscheiden kann. Und wenn der Leser merkt, dass dieser Wegweiser nicht nur nach außen auf Schiller und Kant zeigt, sondern auch nach innen, in seine eigene Brust, dann wird er verstehen was ich meine.
Ich werde im Folgenden zweimal zwei Schriften von Kant und Schiller gegenüber stellen. Zuerst Kants Schrift „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ und Schillers kurzen Aufsatz „Über das Erhabene“, worin die unterschiedliche Denkweise deutlich hervortritt. Dann vergleiche ich zwei Schriften, in denen das jeweilige Menschenbild besonders deutlich zu Tage kommt, es ist Schillers Schrift „Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der Mosaischen Urkunde“, von der bisweilen behauptet wird, diese sei eine Kopie von Kants „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“.
Schillers Denkweise lässt uns immer den „philosophischen Kopf“ erkennen, der bestrebt ist, das untersuchte „Gebiet zu erweitern“, der weiß, dass „nur der abstrahierende Verstand... jene Grenzen“ in der Wissenschaft „gemacht hat“ und dessen „edle Ungeduld... nicht ruhen kann, bis alle seine Begriffe zu einem harmonischen Ganzen sich geordnet haben“; ja, der sein einmal errichtetes Ideengebäude „selbst zertrümmert“, um es „vollkommener wiederherzustellen“. Wir erleben bei Schiller immer einen Gedankenprozess und werden selbst zum Weiterdenken angeregt.
Kant erweckt durch einen komplizierten und trockenen Vortrag den Eindruck einer alles berücksichtigenden, tiefen Betrachtung, welche das eigene Wissen immer selbstkritisch durchleuchtet. Aber bisweilen entpuppen sich die tiefen Urteile leider als Vorurteile und viele der tiefsinnig klingenden Sätze werden, wenn man sich endlich klar gemacht hat, zu Belanglosigkeiten. Für Kants Denkweise ist ein formalistischer, bisweilen pedantischer Zug typisch. Ich muss zugeben, dass ich mich beim Lesen von Kant oft ungut fühle, weil es mir so vorkommt, als werde mein Denken nicht, wie bei Schiller, angeregt wird, sondern im Gegenteil in Denkschablonen gepresst und eingeengt. Die berühmten „Kantschen Antinomien“ halte ich zu, Beispiel für ein derartiges Beispiel, eine Argumentationskette, die wirklicher Wahrheitsfindung widerspricht.
Genauso konträr wie die Denkweise ist das Bild, welches sich Schiller und Kant vom Menschen machen. Zeigt Schillers Begriff des Erhabenen, dass die Willensfreiheit ein wesentlicher Charakterzug des Menschen ist, so belegt sein Aufsatz „über die erste Menschengesellschaft“, dass sich diese Freiheit durch die Nächstenliebe entwickelt. Es ist die im Menschen verwirklichte, höchste Form der „Sympathie“, welche Schillers Ode „An die Freude“ als die das gesamte Universum bewegende Kraft feiert, welche vom „Wurm“ bis zum „Cherub“-Engel alle „Wesen trinken“! In der „ersten Menschengesellschaft“ zeigt uns Schiller, wie sich diese Fähigkeit zur Liebe sowohl in jedem einzelnen Menschen ausformt und entwickelt, als auch in der Geschichte der menschlichen Kultur zu immer neuen Höhen weiterentwickelt werden muss. Nur das Abweichen oder Blockieren dieser Entwicklung führt zu Ungleichheit, Gewalt und Unterdrückung. Schillers Mensch ist gut, denn sein Wesenskern ist diese Liebesfähigkeit, aus der heraus er seine emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten, sowie die Formen des staatlichen Zusammenlebens, entwickelt.
Wie anders ist Kants Menschenbild. Er vertritt die Vorstellung der Mensch sei „notwendigerweise“ böse, das Böse wurzele im menschlichen Charakter, weshalb er den Menschen als „radikal böse“ bezeichnet. Konsequent versucht er, durch Gesetz und Pflicht eine Staatsordnung zu entwickeln, die „selbst ein Volk von Teufeln“ zur Vernunft bringen kann - Welch ein Gegensatz zu Schillers „Ästhetischer Erziehung“ des Bürgers zum „freien Staat“! Das Beste, wozu Kant in seiner lieblosen Welt schließlich gelangen kann, ist der Anspruch, dass „die Menschheit“ in jedem Menschen geheiligt werden müsse; weil der Mensch „Zweck an sich selbst“ sei. Das ist denn auch der „Höhepunkt“, auf den Kants „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ hinsteuert. Doch sehen wir uns das genauer an.

1.1) Kants Denkweise anhand seiner Schrift „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“
Kant beginnt mit den Worten: „Die verschiedenen Empfindungen des Vergnügens oder des Verdrusses beruhen nicht so sehr auf der Beschaffenheit der äußeren Dinge, die sie erregen, als auf dem jedem Menschen eigenen Gefühl, dadurch mit Lust oder Unlust gerührt zu werden...“ Kant sagt, er wolle das Gefühl betrachten, welches das Empfinden des Schönen und Erhabenen hervorruft.
Er macht jedoch sofort die folgende Einschränkung:
„Doch schließe ich hievon die Neigung aus, welche auf hohe Verstandeseinsichten geheftet ist, und den Reiz, dessen ein Kepler fähig war, wenn er, wie Bayle berichtet, eine seiner Erfindungen nicht um ein Fürstentum würde verkauft haben. Diese Empfindung ist gar zu fein, als dass sie in den gegenwärtigen Entwurf gehören sollte, welcher nur das sinnliche Gefühl berühren wird, dessen die Seelen fähig sind.“
Welch ein Armutszeugnis und wie eines denkenden Menschen unwürdig ist das Beiseitelassen von Keplers Verhalten. Jeder denkende Mensch greift doch gerade diese außergewöhnlichen Fälle auf, um etwas Wesentliches zu erfahren. Hinter der scheinbaren „Denkökonomie“, komplexe und überraschende Fälle „fürs erste“ beiseite zu legen, weil sie „zu fein“ seien, verbirgt sich eine Denkungsart, die Schiller mit dem Begriff des „Brotgelehrten“ brandmarkte. Denn dieses „zu Feine“, dieses „Übersinnliche“ ist es doch gerade, was zu untersuchen wäre, und welches Schiller in seinen theoretischen Schriften über das Erhabene erforscht. Und in seinem Gedicht „Die Künstler“ sagt er, dass die Wissenschaft nur „durch das Morgentor des Schönen“ ins menschliche Leben eintrat, weswegen dem schöpferischen Geist auch heute noch die „Wahrheit als Schönheit“ entgegentritt. Das ist es, was Kepler Erfindungen kostbarer macht als irdische Güter.
Für Kant ist dieser Gedanke „zu fein“. Er plaudert stattdessen über „das Gefühl des Schönen und Erhabenen“. Den „Anblick eines Gebirges“, die „Beschreibung eines Sturmes“ oder Miltons „Schilderung des höllischen Reiches“ findet Kant erhaben, die „Aussicht auf blumenreiche Wiesen, Täler mit schlängelnden Bächen, bedeckt von Herden“ oder „Homers Schilderung von dem Gürtel der Venus“ erzeugt das Gefühl der Schönheit. „Das Erhabene rührt, das Schöne reizt.“ Und „das Erhabene muss jederzeit groß, das Schöne kann auch klein sein. Das Erhabene muss einfältig, das Schöne kann geputzt und geziert sein.“ Auch: „Freundschaft hat hauptsächlich den Zug des Erhabenen, Geschlechterliebe aber des Schönen an sich,“ usw., usw.
„Leute, deren Gefühl vornehmlich auf das Schöne geht, suchen ihre redlichen, beständigen und ernsthaften Freunde nur in der Not auf; den scherzhaften, artigen und höflichen Gesellschafter aber erwählen sie sich zum Umgang.“ Ist das nicht schlimm für diejenigen, deren Gefühl vornehmlich auf das Schöne geht, dass sie ihre ernsthaften Freunde nur in der Not treffen? Kant fährt fort: „Man schätzt manchen viel zu hoch, als dass man ihn lieben könnte. Er flößt Bewunderung ein, aber er ist zu weit über uns, als dass wir mit Vertraulichkeit der Liebe uns ihm zu nähern getrauen.“ Armer Kant! Es muss ihm unmöglich gewesen sein, Gott zu lieben, denn welcher Mensch immer soweit über Kant stand, dass er ihn nicht lieben konnte, Gott steht unendlich weit über diesem. Kant kannte keinen „lieben Gott“.
Kants Stärke ist das Kategorisieren. Und deshalb werden von ihm nun auch die Menschen zur Untersuchung des Erhabenen und Schönen geradezu zwanghaft in vier Typen eingeteilt. Kant behauptet, der sanguinische Typ „vereinbart“ sich „am natürlichsten mit dem Schönen“, während der „melancholische... vorzüglich ein Gefühl für das Erhabene“ hat. Der „cholerische“ kann auch durchaus für das Erhabene empfänglich sein, wenn dieses von der Art „des Prächtigen“ ist. Wo hingegen „dem phlegmatischen“ Typ keine „Ingredienzien von Erhabenen oder Schönen in sonderlich merklichem Grade zukommen.“ Genauso gründlich wird dann der „Unterschied des Erhabenen und Schönen in dem Gegenverhältnis beider Geschlechter“ untersucht, wobei herauskommt, dass das männliche dem Erhabenen näher stehe, während das weibliche mehr dem Schönen geneigt sei. Welche tiefe Betrachtung und welche überraschende Erkenntnis!
Schließlich kann sich Kant nicht verkneifen, auch noch den „Nationalcharakter“ bezüglich des Gefühls des Schönen und Erhabenen zu untersuchen. Er behauptet: „Unter den Völkerschaften unseres Weltteils sind meiner Meinung nach die Italiener und Franzosen diejenigen, welche dem Gefühl des Schönen, die Deutschen aber, Engländer und Spanier, die durch das Gefühl des Erhabenen sich unter allen übrigen am meisten ausnehmen.“ Nachdem er dieses ausführlich abgehandelt hat, wirft Kant auch noch „einen flüchtigen Blick“ auf die „anderen Erdteile“. Er setzt kurzerhand die Araber mit den Spaniern gleich und die Perser mit den Franzosen, um sich dann zu folgenden erhellenden Feststellungen aufzuschwingen:
„Welch läppische Fratzen enthalten nicht die weitschichtigen und ausstudierten Komplimente der Chineser; selbst ihre Gemälde sind fratzenhaft und stellen wunderliche und unnatürliche Gestalten vor“ Von dem durch seine Kritik der Erkenntnisfähigkeit des Menschen so berühmten Denker hätten man an dieser Stelle eigentlich die kritische Frage erwartet, ob es sich hier nicht möglicherweise um ein Vorurteil handele.
Die philosophische Tiefe, die Kant in dem unmittelbar folgenden Abschnitt erreicht, ist kaum zu unterbieten: „Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische siegte. Herr Hume fordert jedermann auf, ein einziges Beispiel anzuführen, da ein Neger Talente gewiesen habe, und behauptet: dass unter den Hunderttausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländern anderwärts verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft oder irgendeiner andern rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe, obgleich unter den Weißen sich beständig welche aus dem niedrigsten Pöbel emporschwingen und durch vorzügliche Gaben in der Welt ein Ansehen erwerben. So wesentlich ist der Unterschied zwischen diesen zwei Menschengeschlechtern, und er scheint ebenso groß in Ansehung der Gemütsfähigkeit als der Farbe nach zu sein.“ Kant hob einleitend hervor, dass es vor allem auf das „jedem Menschen eigene Gefühl“ ankommt, wodurch er „mit Lust oder Unlust gerührt“ werde. Bei den „Negers von Afrika“ ist in Sachen Schönheit und Erhabenheit einfach nichts vorhanden, „vorurteilt“ Kant.

1.2) Schiller Denkprozess anhand des Begriffs des Erhabenen
Welcher Unterschied zu Friedrich Schiller, der seine Schrift „Über das Erhabene“ mit einem Zitat aus Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ beginnt: „‘Kein Mensch muss müssen‘, sagt der Jude Nathan zum Derwisch, und dieses Wort ist in einem weiteren Umfange wahr, als man demselben vielleicht einräumen möchte. Der Wille ist der Geschlechtscharakter des Menschen,..
Ebendeswegen ist des Menschen nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns antut, macht uns nichts Geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feigerweise erleidet, wirft seine Menschheit hinweg. Aber dieser Anspruch auf absolute Befreiung von allem, was Gewalt ist, scheint ein Wesen vorauszusetzen, welches Macht genug besitzt, jede andere Macht von sich abzutreiben. Findet er sich in einem Wesen, welches im Reich der Kräfte nicht den obersten Rang behauptet, so entsteht daraus ein unglücklicher Widerspruch zwischen dem Trieb und dem Vermögen.“ Stimmt! Aber was hat das mit dem Erhabenen zu tun? Lesen wir weiter.
„Gegen alles, sagt das Sprichwort, gibt es ein Mittel, nur nicht gegen den Tod. Aber diese einzige Ausnahme, wenn sie das wirklich im strengen Sinne ist, würde den ganzen Begriff des Menschen aufheben. Nimmermehr kann er das Wesen sein, welches will, wenn es auch nur einen Fall gibt, wo er schlechterdings muss, was er nicht will. Dieses einzige Schreckliche, was er nur muss und nicht will, wird wie ein Gespenst ihn begleiten, und ihn, wie auch wirklich bei den mehresten Menschen der Fall ist, den blinden Schrecknissen der Phantasie zur Beute überliefern; seine gerühmte Freiheit ist absolut nichts, wenn er auch nur in einem einzigen Punkte gebunden ist. Die Kultur soll den Menschen in Freiheit setzen und ihm dazu behilflich sein, seinen ganzen Begriff zu erfüllen. Sie soll ihn also fähig machen, seinen Willen zu behaupten, denn der Mensch ist das Wesen, welches will.“
Aha! Es gibt diesen Widerspruch zwischen der Willensfreiheit und der Notwendigkeit, die uns am drastischsten im Tod entgegentritt. Wir beginnen zu ahnen, was das mit dem Begriff des Erhabenen zu tun haben könnte. Lesen wir weiter.
„Dies ist auf zweierlei Weise möglich. Entweder realistisch, wenn der Mensch der Gewalt Gewalt entgegensetzt, wenn er als Natur die Natur beherrscht: oder idealistisch, wenn er aus der Natur heraustritt und so, in Rücksicht auf sich, den Begriff der Gewalt vernichtet...
Der moralisch gebildete Mensch, und nur dieser, ist ganz frei. Entweder er ist der Natur als Macht überlegen, oder er ist einstimmig mit derselben. Nichts was sie an ihm ausübt, ist Gewalt, denn eh es bis zu ihm kommt, ist es schon seine eigene Handlung geworden, und die dynamische Natur erreicht ihn selbst nie, weil er sich von allem, was sie erreichen kann, freitätig scheidet. Diese Sinnesart aber, welche die Moral unter dem Begriff der Resignation in die Notwendigkeit und die Religion unter dem Begriff der Ergebung in den göttlichen Ratschluss lehret, erfordert, wenn sie ein Werk der freien Wahl und Überlegung sein soll, schon eine größere Klarheit des Denkens und eine höhere Energie des Willens, als dem Menschen im handelnden Leben eigen zu sein pflegt. Glücklicherweise aber ist nicht bloß in seiner rationalen Natur eine moralische Anlage, welche durch den Verstand entwickelt werden kann, sondern selbst in seiner sinnlich vernünftigen, d.h. menschlichen Natur eine ästhetische Tendenz dazu vorhanden, welche durch gewisse sinnliche Gegenstände geweckt, und durch Läuterung seiner Gefühle zu diesem idealistischen Schwung des Gemütes kultiviert werden kann. Von dieser, ihrem Begriff und Wesen nach, zwar idealistischen Anlage, die aber auch selbst der Realist in seinem Leben deutlich genug an den Tag legt, obgleich er sie in seinem System nicht zugibt... werde ich gegenwärtig handeln.“

Da haben wir den Schlüssel. Wie kann uns die in der „menschlichen Natur vorhandene ästhetische Tendenz“ diesen Widerspruch zwischen Freiheit und Notwendigkeit lösen helfen? Das muss es sein! Die nun folgende Entwicklung des Begriff des Erhabenen mag der interessierte Leser in Schillers Schrift selbst nachlesen. Hier geht es ja nur um seine Denkweise.
Was tut Schiller? Er erzeugt in unserem Kopf einen gewaltigen Widerspruch. Er stellt den Charakter des Menschen als willensfrei dar: „Der Wille ist der Geschlechtscharakter des Menschen.“ Dann konfrontiert er uns mit der Unmöglichkeit dieses Anspruchs: Dem Tod, gegen den es kein Mittel gibt!
„Aber diese einzige Ausnahme, wenn sie das wirklich im strengen Sinne ist, würde den ganzen Begriff des Menschen aufheben.“ Mit solch einem Paradox kann unser Geist nicht leben, er muss es auflösen. Alles was Schiller nun über den Begriff des Erhabenen entwickelt, fließt notwendig aus dem Gedankenpotential, das er mit diesem Paradox geschaffen hat, und wir selbst empfinden seine Gedankenentwicklung nicht nur als natürlich, sondern werden immer wieder zu eigenen weiterführenden Gedanken angeregt.

2.1) Friedrich Schiller Menschenbild „Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der Mosaischen Urkunde“
Der einleitende Teil „Übergang der Menschen zur Freiheit und Humanität“ ist so schön, dass ich ihn etwas ausführlicher zitieren möchte:
„An dem Leitbande des Instinkts, woran sie noch jetzt das vernunftlose Tier leitet, musste die Vorsehung den Menschen in das Leben einführen und, da seine Vernunft noch unentwickelt war, gleich einer wachsamen Amme hinter ihm stehen. Durch Hunger und Durst zeigte sich ihm das Bedürfnis der Nahrung an, was er zur Befriedigung desselben brauchte, hatte sie in reichlichem Vorrat um ihn herum gelegt, und durch Geruch und Geschmack leitete sie ihn im Wählen. Durch ein sanftes Klima hatte sie seine Nacktheit geschont und durch einen allgemeinen Frieden um ihn her sein wehrloses Leben gesichert. Für die Erhaltung seiner Gattung war durch den Geschlechtstrieb gesorgt. Als Pflanze und Tier war der Mensch also vollendet. Auch seine Vernunft hatte schon von fern angefangen, sich zu entfalten. Weil nämlich die Natur noch für ihn dachte, sorgte und handelte, so konnten sich seine Kräfte desto leichter und ungehinderter auf die ruhige Anschauung richten, seine Vernunft, noch von keiner Sorge zerstreut, konnte ungestört an ihrem Werkzeug, der Sprache, bauen und das zarte Gedankenspiel stimmen. Mit dem Auge eines Glücklichen sah er jetzt noch herum in der Schöpfung; sein frohes Gemüt fasste alle Erscheinungen uneigennützig und rein auf und legte sie rein und lauter in einem regen Gedächtnis nieder. Sanft und lachend war also der Anfang des Menschen, und dies musste sein, wenn er sich zu dem Kampfe stärken sollte, der ihm bevorstand.
Setzen wir also, die Vorsehung wäre auf dieser Stufe mit ihm stillgestanden, so wäre aus dem Menschen das glücklichste und geistreichste Tier geworden - aber aus der Vormundschaft des Naturtriebs wäre er niemals getreten, frei und also moralisch wären seine Handlungen niemals geworden, über die Grenzen der Tierheit wäre er niemals gestiegen. In einer wollüstigen Ruhe hätte er eine ewige Kindheit verlebt - und der Kreis, in welchem er sich bewegt hätte, wäre der kleinstmöglichste gewesen, von der Begierde zum Genuss, vom Genuss zur Ruhe und von der Ruhe wieder zur Begierde.
Aber der Mensch war zu ganz etwas anderem bestimmt, und die Kräfte, die in ihm lagen, riefen ihn zu einer ganz andern Glückseligkeit. Was die Natur in seiner Wiegenzeit für ihn übernommen hatte, sollte er jetzt selbst für sich übernehmen, sobald er mündig war. Er selbst sollte der Schöpfer seiner Glückseligkeit werden, und nur der Anteil, den er daran hätte, sollte den Grad dieser Glückseligkeit bestimmen. Er sollte den Stand der Unschuld, den er jetzt verlor, wieder aufsuchen lernen durch seine Vernunft und als ein freier vernünftiger Geist dahin zurückkommen, wovon er als Pflanze und als eine Kreatur des Instinkts ausgegangen war; aus einem Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft sollte er sich, wäre es auch nach späten Jahrtausenden, zu einem Paradies der Erkenntnis und der Freiheit hinaufarbeiten, einem solchen nämlich, wo er dem moralischen Gesetz in seiner Brust ebenso unwandelbar gehorchen würde, als er anfangs dem Instinkt gedient hatte, als die Pflanzen und Tiere diesem noch heute dienen. Was war also unvermeidlich? Was musste geschehen, wenn er diesem weitgesteckten Ziel entgegenrücken sollte? Sobald seine Vernunft ihre ersten Kräfte nur geprüft hatte, verstieß ihn die Natur aus ihren pflegenden Armen, oder richtiger gesagt, er selbst, von einem Trieb gereizt, den er selbst noch nicht kannte, und unwissend, was er in diesem Augenblick Großes tat, er selbst riß ab von dem leitenden Bande, und mit seiner noch schwachen Vernunft, von dem Instinkte nur von ferne begleitet, warf er sich in das wilde Spiel des Lebens, machte er sich auf den gefährlichen Weg zur moralischen Freiheit. Wenn wir also jene Stimme Gottes in Eden, die ihm den Baum der Erkenntnis verbot, in eine Stimme seines Instinktes verwandeln, der ihn von diesem Baum zurückzog, so ist sein vermeintlicher Ungehorsam gegen jenes göttliche Gebot nichts anders als - ein Abfall von seinem Instinkte - also erste Äußerung seiner Selbsttätigkeit, erstes Wagestück seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseins. Dieser Abfall des Menschen vom Instinkte, der das moralische Übel zwar in die Schöpfung brachte, aber nur um das moralische Gute darin möglich zu machen, ist ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte, von diesem Augenblick her schreibt sich seine Freiheit, hier wurde zu seiner Moralität der erste entfernte Grundstein gelegt...“

Welch schöne Deutung der biblischen Worte: „Da sprach die Schlange zum Weibe: ‚Ihr werdet nicht des Tods sterben, sondern Gott weiß, dass, welchs Tags ihr davon esset, so werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott, und wissen, was gut und böse ist.‘„ Schiller fährt fort.
„...und mit diesem Schritt trat er zuerst auf die Leiter, die ihn nach Verlauf von vielen Jahrtausenden zur Selbstherrschaft führen wird. Jetzt wurde der Weg länger, den er zum Genuss nehmen musste. Anfangs durfte er nur die Hand ausstrecken, um die Befriedigung sogleich auf die Begierde folgen zu lassen; jetzt aber musste er schon Nachdenken, Fleiß und Mühe zwischen die Begierde und ihre Befriedigung einschalten. Der Friede war aufgehoben zwischen ihm und den Tieren. Die Not trieb sie jetzt gegen seine Pflanzungen, ja gegen ihn selbst an, und durch seine Vernunft musste er sich Sicherheit und eine Überlegenheit der Kräfte, die ihm die Natur versagt hatte, künstlich über sie verschaffen: er musste Waffen erfinden und seinen Schlaf durch feste Wohnungen vor diesem Feinde sicherstellen. Aber hier schon ersetzte ihm die Natur an Freuden des Geistes, was sie ihm an Pflanzengenüssen genommen hatte. Das selbstgepflanzte Kraut überraschte ihn mit einer Schmackhaftigkeit, die er vorher nicht kennengelernt hatte; der Schlaf beschlich ihn nach der ermüdenden Arbeit und unter selbstgebautem Dache süßer als in der trägen Ruhe seines Paradieses. Im Kampfe mit dem Tiger, der ihn anfiel, freute er sich seiner entdeckten Gliederkraft und List, und mit jeder überwundenen Gefahr konnte er sich selbst für das Geschenk seines Lebens danken.
Jetzt war er für das Paradies schon zu edel, und er kannte sich selbst nicht, wenn er im Drang der Not und unter der Last der Sorgen sich in dasselbe zurückwünschte. Ein innrer ungeduldiger Trieb, der erwachte Trieb seiner Selbsttätigkeit, hätte ihn bald in seiner müßigen Glückseligkeit verfolgt und ihm die Freuden verekelt, die er sich nicht selbst geschaffen hatte. Er würde das Paradies in eine Wildnis verwandelt und dann die Wildnis zum Paradies gemacht haben...“

Es wäre so viel zu diesem Absatz zu sagen und er regt zu vielen Ideen an. Ich möchte jedoch nur auf einen Punkt das besondere Augenmerk lenken, weil dieser für die Art und Weise, wie Kant diese Stelle interpretiert, von Bedeutung ist. Schiller erklärt, dass die menschliche Glückseligkeit nicht in der Erfüllung einer sinnlichen Begierde liegt, wie sie auch das Tier kennt, sondern im autonomen Streben und Verwirklichen einer vorgestellten Idee. Der menschliche Trieb bleibt nicht wie der tierische auf der Ebene der Befriedigung der Sinne, sondern es tritt etwas Neues dazwischen, was nicht nur eine Verzögerung der Befriedung bewirkt, sondern eine qualitativ neue Art der Befriedigung bewirkt. Die schöpferische „Arbeit“ des Menschen wird zur Befriedigung der Begierde notwendig, weil deren Ziel etwas qualitativ Neues ist und in den Bereich der Idee zielt.
Doch folgen wir Schiller noch etwas weiter, der aus dem bisherigen nun die Bedeutung der Entwicklung der Fähigkeit zur „Sympathie“ für das Menschsein entwickelt, indem er mit der Beschreibung des „häuslichen Lebens“ fortfährt.
„Die Geburt eines Sohnes, seine Ernährung, Wartung und Erziehung vermehrten die Kenntnisse, Erfahrungen und Pflichten der ersten Menschen mit einem wichtigen Zuwachs...
Bis jetzt hatten beide nur ein gesellschaftliches Verhältnis, nur eine Gattung von Liebe erkannt, weil jedes in dem andern nur einen Gegenstand vor sich hatte. Jetzt lernten sie mit einem neuen Gegenstand eine neue Gattung von Liebe, ein neues moralisches Verhältnis kennen -- elterliche Liebe. Dieses Gefühl von Liebe war von reinerer Art als das erste, es war ganz uneigennützig, da jenes erste bloß auf Vergnügen, auf wechselseitiges Bedürfnis des Umgangs gegründet gewesen war.
Sie betraten also mit dieser neuen Erfahrung schon eine höhere Stufe der Sittlichkeit - sie wurden veredelt.
Aber die elterliche Liebe, in welcher sich beide für ihr Kind vereinigten, bewirkte nun auch eine nicht geringe Veränderung in dem Verhältnis, worin sie bisher zueinander gestanden hatten. Die Sorge, die Freude, die zärtliche Teilnahme, worin sie sich für den gemeinschaftlichen Gegenstand ihrer Liebe begegneten, knüpfte unter ihnen selbst neue und schönere Bande an. Jedes entdeckte bei dieser Gelegenheit in dem andern neue sittliche Züge, und eine jede solcher Entdeckungen erhöhte und verfeinerte ihr Verhältnis. Der Mann liebte in dem Weibe die Mutter, die Mutter seines geliebten Sohns. Das Weib ehrte und liebte in dem Mann den Vater, den Ernährer ihres Kindes. Das bloß sinnliche Wohlgefallen aneinander erhob sich zur Hochachtung, aus der eigennützigen Geschlechtsliebe erwuchs die schöne Erscheinung der elterlichen Liebe...

Bis jetzt hatten beide, solange sie allein waren, nur in der Gegenwart und in der Vergangenheit gelebt, aber nun fing die ferne Zukunft an, ihnen Freuden zu zeigen. So wie sie ihre Kinder neben sich aufwachsen sahen, und jeder Tag eine neue Fähigkeit in diesen entwickelte, taten sich ihnen lachende Aussichten für die Zukunft auf, wenn diese Kinder nun einmal Männer und ihnen gleich werden würden - in ihrem Herzen erwachte ein neues Gefühl, die Hoffnung. Welch ein unendliches Gebiet aber wird dem Menschen durch die Hoffnung geöffnet! Vorher hatten sie jedes Vergnügen nur einmal, nur in der Gegenwart genossen - in der Erwartung wurde jede künftige Freude mit zahlloser Wiederholung vorausempfunden!
Als die Kinder nun wirklich heranreiften, welche Mannigfaltigkeit kam auf einmal in diese erste Menschengesellschaft!“

Diese Mannigfaltigkeit bringt es nun mit sich, dass sich individuelle Unterschiede und verschiedene Lebensweisen herausbilden. Da wo dieser Unterschied egoistisch ausgenutzt wird, manifestiert sich die Ungleichheit. Ja, der Mensch kämpft bald nicht mehr nur gegen wilde Tiere, sondern gegen den Nebenmenschen. Auch erwachte durch diese Ungleichheit die „unglückliche Leidenschaft des Neides“. Der ungleiche Zustand wurde vom Vater auf den Sohn vererbt und das „Glück führte den Reichen zum Müßiggang, der Müßiggang führte ihn zur Lüsternheit und endlich zum Laster. Sein Leben auszufüllen, musste er die Zahl seiner Genüsse vermehren, schon reichte das gewöhnliche Maß der Natur nicht mehr hin, den Schwelger zu befriedigen.. Er überredete sich leicht, daß alles sein sei, was seinen Knechten gehörte... Die Tochter seines Knechtes war ihm zur Gattin zu niedrig; aber zur Befriedigung seiner Lüste war sie doch zu gebrauchen. Ein neuer wichtiger Schritt der Verfeinerung und Verschlimmerung. Sobald aber nun das Beispiel einmal gegeben war, so musste die Sittenverderbnis bald allgemein werden. Je weniger Zwangsgesetze sie nämlich vorfand, die ihr hätte Einhalt tun können, je näher die Gesellschaft, in welcher diese Sittenlosigkeit aufkam, noch dem Stande der Unschuld war, desto reißender musste sie sich verbreiten. Das Recht des Stärkeren kam auf, Macht berechtigte zur Unterdrückung, und zum ersten Mal zeigte sich Tyrannei.“ Und schließlich endet Schiller seinen Aufsatz mit der für die damaligen Zeiten der aufgeklärten Absolutismus ungeheuerlichen Feststellung, dass „der erste König ein Usurpator war, den nicht ein freiwilliger einstimmiger Ruf der Nation (denn damals war noch keine Nation), sondern Gewalt und Glück und eine schlagfertige Miliz auf den Thron setzten.“ 

2.2) Der Mensch des Immanuel Kant: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte
Betrachten wir nun die Schrift Immanuel Kants, welche angeblich dem Aufsatz Schillers zur Vorlage gedient hat. In der Tat macht Kant formal das gleiche, indem er die Bibel als historische Urkunde zur Beschreibung des „mutmaßlichen Anfangs der Menschengeschichte“ hernimmt. Doch welche
niedere Vorstellung des Menschen kommt darin zum Ausdruck!
Kant teilt die Entwicklung in vier Schritte ein, welche die Vernunft des Menschen macht, und ordnet diesen Schritten Bibelstellen zu. Warum gerade vier Schritte und warum diese erklärt er nicht.
Im ersten Schritt, den die Vernunft über den Instinkt hinausgeht, erweitert sie die Grenzen der Nahrungsaufnahme über den Instinkt hinaus. Das ist für Kant nicht eine Befreiung und qualitative Veränderung des Menschen, sondern eine durchaus problematische Sache und sofort entspringt diesem ersten Vernunftgebrauch der Missbrauch.
„Solange der unerfahrene Mensch diesem Ruf der Natur gehorchte, so befand er sich gut dabei. Allein die Vernunft fing bald an sich zu regen, und suchte... seine Kenntnis der Nahrungsmittel über die Schranken des Instinkts zu erweitern... Allein, es ist eine Eigenschaft der Vernunft, dass sie Begierden mit Beihülfe der Einbildungskraft, nicht allein ohne einen darauf gerichteten Naturtrieb, sondern sogar wider denselben, erkünsteln kann, welche im Anfange den Namen der Lüsternheit bekommen, wodurch aber nach und nach ein ganzer Schwarm entbehrlicher, ja sogar naturwidriger Neigungen, und der Benennung der Üppigkeit, ausgeheckt wird.“
Wenn man es so sieht, möchte man sich über die neue Vernunftfreiheit gar nicht freuen, liegt es doch in der „Eigenschaft der Vernunft“, dass sie sofort alle möglichen „naturwidrigen Neigungen“ erzeugt, von denen das tierische Wesen verschont bleibt.
Der zweite Schritt der Vernunft geht über den Instinkt zum Geschlechtstrieb hinaus, sagt Kant. „Nächst dem Instinkt zur Nahrung, durch welchen die Natur jedes Individuum erhält, ist der Instinkt zum Geschlecht, wodurch sie für die Erhaltung der Art sorgt, der vorzüglichste. Die einmal rege gewordene Vernunft säumte nun nicht, ihren Einfluss auch an diesem zu beweisen. Der Mensch fand bald: dass der Reiz des Geschlechts, der bei den Tieren bloß auf einem vorübergehenden, größtenteils periodischen, Antriebe beruht, für ihn der Verlängerung und sogar Vermehrung durch die Einbildungskraft fähig sei, welche ihr Geschäft zwar mit mehr Mäßigung, aber zugleich dauerhafter und gleichförmiger treibt, je mehr der Gegenstand den Sinnen entzogen wird, und dass dadurch der Überdruss verhütet werde, den die Sättigung einer bloß tierischen Begierde bei sich führt. Das Feigenblatt war also das Produkt einer weit größeren Äußerung der Vernunft, als sie in der ersten Stufe ihrer Entwicklung bewiesen hatte. Denn eine Neigung dadurch inniglicher und dauerhafter zu machen, dass man ihren Gegenstand den Sinnen entzieht, zeigt schon das Bewusstsein einiger Herrschaft der Vernunft über Antriebe;... Weigerung war das Kunststück, um von bloß empfundenen
zu idealischen Reizen, von der bloß tierischen Begierde allmählich zur Liebe, und mit dieser vom Gefühl des bloß Angenehmen zum Geschmack für Schönheit, anfänglich nur an Menschen, dann auch an der Natur, überzuführen.“

Schiller nimmt den „Sündenfall“ als Bild des Aufkeimens des freien Willens, welches den Menschen überhaupt erst zum moralischen Wesen macht. Der Mensch weiß nun „wie Gott, was gut und böse ist.“ Kant entgeht diese neue Qualität völlig, und die Szene erscheint lediglich als eine Art Striptease, wobei die Tatsache, dass „der Gegenstand“ für eine Zeit „den Sinnen entzogen wird“, zur Steigerung des Genusses führt. Von einer qualitativ neuen Glückseligkeit durch das Streben nach und Verwirklichen einer vorgestellten Idee ist bei Kant keine Rede. Alles bleibt auf der Ebene „angenehmer Gefühle“.

Nach Kants Vorstellung kommt die Vernunft dann in einem dritten Schritt zur „Erwartung des Zukünftigen“ und im vierten Schritt der Vernunft „begriff (der Mensch), er sei eigentlich der Zweck der Natur, und nichts, was auf der Erden lebt, könne hierin einen Mitbewerber gegen ihn abgeben.“
Im Gegensatz zu Schillers Entwicklung der menschlichen Gesellschaft aus der Familie und der „elternlichen Liebe“, lernen wir bei Kant, dass „die eigentliche Grundlage aller wahren Geselligkeit“ unsere „Neigung“ ist, „anderen Achtung gegen uns einzuflößen“. Und wenn wir uns daran erinnern, wie Schiller das Problem der Ungleichheit der Menschen, bis hin zum „erste König“ als „Usurpator“ darlegt, dann lernen wir von Kant, dass „Ungleichheit unter den Menschen, die reiche Quelle so vieles Bösen, aber auch alles Guten“ sei. Wohlgemerkt: Ungleichheit ist Quelle „alles Guten“! Was bei Kant völlig fehlt, ist Schillers positives Konzept sich immer weiter entwickelnder Nächstenliebe und die Erhebung zur Idee. Kants Mensch ist von Trieben geleitet und ihm bleibt unentrinnbar unter dem Schicksal des „radikal Bösen“.
Und so erklärt Kant in seiner „Anmerkung“ zu der Schrift den Sündenfall zwar wie auch Schiller als „Übergang aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit,“ aber dieser „erste Schritt“ war für Kant ein „Fall“ und „eine Menge nie gekannter Übel des Lebens die Folge dieses Falls.“ Das ist die gerechte Strafe für diesen Fall. Kants Begründung: „Die Geschichte der Natur fängt also vom guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk.“ Schiller spielt in seiner Schrift auf diese Sichtweise in offensichtlicher Ironie an, wenn er sagt, dass wohl ein „Volklehrer“ bei diesem Schritt von einem „Fall“ sprechen könne, „aber der Philosoph“ müsse „der menschlichen Natur zu diesem wichtigen Schritt zur Vollkommenheit Glück wünschen.“

Schlußbemerkung
Ist der Mensch gut oder radikal böse? Der Unterschied des Menschenbildes, welchen wir bei Kant und Schiller sehen, ist eine uralte Streitfrage der Menschheit. Wir treffen sie zum Beispiel bereits 2000 vorher in China an, in der unterschiedlichen Sichtweise von Hsün-Tse und Meng-tse.
Hsün-Tse lebte von 305 - 235 v. Chr. Sein Schüler Han Fei-tse war der Hauptvertreter des Legalismus. Er lehrte:
„Die Natur des Menschen ist böse. Die ursprüngliche Natur des Menschen besteht im Streben nach Gewinn. Wird diesem Streben nachgegeben, sind Streit und Raub die Folge, und alle Rücksicht stirbt aus. Der Mensch ist vom Ursprung her neidisch und haßt von Natur die andern. Wird diesen Neigungen nachgegeben, sind Unrecht und Zerstörung die Folgen, Treu und Glauben vernichtet. Den Menschen ist vom Ursprung her die Begierden des Ohres und Auges eigen, er liebt das Lob und ist voller Gelüste. Gibt man ihnen nach, sind Unkeuschheit und Unordnung die Folgen,... Deshalb ist die Zügelung durch die Gesetze das richtige Verhalten und der Gerechtigkeit unumgänglich notwendig.“
Meng-tse (Mencius) hingegen sagt: „Die Tatsache, das die Menschen belehrbar sind, zeigt, das die ursprüngliche Natur des Menschen gut ist.“ Er lebte von 371 bis 289 und gilt neben Konfuzius als „zweiter Heiliger“. Er erachtet es als „göttliches Recht, einen verderbten Monarchen abzusetzen, ja zu töten.“
Meister Kao sagte: „Des Menschen Natur gleicht einem wirbelnden Wasser. Öffnet man ihm einen Weg nach Osten, so fließt es nach Osten; öffnet man ihm einen Weg nach Westen, so fließt es nach Westen. Des Menschen Natur kennt keinen Unterschied zwischen Gut und Böse, so wie das Wasser keinen Unterschied kennt zwischen Osten und Westen!“
Darauf sagte Mensius: „Freilich kennt das Wasser keinen Unterschied zwischen Ost und West. Kennt es aber auch keinen Unterschied zwischen Oben und Unten? Der Menschen Natur ist gut, gleichwie das Wasser nach unten fließt. Kein Mensch, der nicht zum Guten neigte; kein Wasser, das nicht nach unten strebte. Indessen: Wenn man... das Wasser... antreibt und leitet, so kann man erreichen, dass es auf Bergen ist. Wie aber wäre das die wahre Natur des Wassers! Nur die Gewalt der besonderen Umstände hat das bewirkt. Und wenn der Mensch dazu gebracht werden kann, nicht gut zu sein, so ist seiner wahren Natur ein Gleiches widerfahren.“
Diese Beispiele aus der chinesischen Geschichte verdeutlichen: Wir treffen hier auf einen grundlegenden Gegensatz. Wer einen Staat will, in dem ein kleine Oligarchie die Mehrheit beherrscht, der muss davon ausgehen, dass der Mensch schlecht ist, um zu rechtfertigen, dass er die Mehrheit durch Gesetze und Zwang (wie subtil und „modern“ er auch sein mag) unterdrückt, während die Vertreter eines freien Staates immer vom guten, verbesserungsfähigen Menschen ausgehen, und ihre Hauptaufgabe darin sehen, möglichst viele Mitmenschen zu verantwortlichen Staatsbürgern zu erziehen. Auf der einen Seite stehen Hsün-Tse und Kant auf der andern Mensius und Schiller. Deshalb ist der Unterschied der Denkweise und des Menschenbildes von Kant und Schiller keine theoretische Frage, sondern eine Frage der praktischen Politik.

Ralf Schauerhammer


P.S.: Zur Verdeutlichung der letzten beiden Aufsätze füge ich die relevante Bibelstelle an.
Moses, Buch I, Kapitel 3
Und die Schlange war listiger denn alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte, und sprach zu dem Weibe: „Ja, sollte Gott gesagt haben, Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?“
Da sprach das Weib zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten. Aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: „Esset nicht davon, rühret's auch nicht an, dass ihr nicht sterbet.“
Da sprach die Schlagen zum Weibe: „Ihr werdet nicht des Tods sterben, sondern Gott weiß, dass, welchs Tags ihr davon esset, so werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott, und wissen was gut und böse ist.“
Und das Weib schaute an, das von dem Baum gut zu essen wäre, und lieblich anzusehen, dass es ein lüstiger Baum wäre, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht, und aß, und gab ihrem Mann auch davon, und er aß. Da wurden ihr beider Augen aufgetan, und wurden gewahr, dass sie nackt waren, und sie flochten Feigenblätter zusammen, und machten sich Schurze.