Indische-Musik

Rabindranath Tagore, Poesie und Musik


Abschlusspräsentation zu Musik in Südasien. Ein interkulturelles Projekt
Veranstalter: Hochschule für Musik Mainz
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08. Februar 2017 um 20:00 Uhr
Hochschule für Musik
Black Box (02-312)
Jakob-Welder-Weg 28
55128 Mainz
Eintritt frei

Leitung:
Dr. Arun Banerjee, Prof. Christopher Miltenberger
mit Ashok Nair (Sitar)
und Florian Schiertz (Tabla)
sowie Studierenden der Abteilung Schulmusik
und Mitgliedern des Poesievereins Dichterpflänzchen (Rezitationen).

In Zusammenarbeit mit dem Institut für Indologie der JGU.
Gefördert durch das Gutenberg Lehrkolleg (GLK)

Kontakt: Veranstaltungsmanagement HfM
Hochschule für Musik
Tel.: +49 6131 39-28009, Email: veranstaltungen-musik@uni-mainz.de

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Ashok Nair
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Florian Schiertz

Rabindranath Tagore
Das Entzücken des Fliegens (Übertragung:Dr. Martin Kämpchen)

Welch ein Entzücken der Vögel, wenn sie
auffliegen in endloser Weite treiben,
während die Flügel ein namenlos´ Wort
in den Himmel schreiben.
Wenn sich mein Geist erhebt,
beginnt sein Ton zu schwingen;
im Entzücken des Fliegens allein
kann mein Schreiben gelingen.

Auszüge einer Präsentation „Musik und Tanz bei Rabindranath“
von Dr. Banerjee.


Die klassische indische Musik.
Schon als Kind erhielt Rabindranath Gesangsunterricht in den wichtigsten Genre der indischen Musik. Im Alter von vierzehn Jahren verfasste er erste Lieder. Insgesamt komponierte und textete er über 2000 Lieder und schrieb mehrere Tanz- und Musikdramen. Text und Melodie entstanden meist gleichzeitig, hatten direkten Bezug zueinander und waren von gleicher Wichtigkeit. Zwei Grundelemente der klassischen indischen Musik sind: TALA und RAGA

TALA
Sie ist die rhythmisch metrische Grundstruktur der Musik.

RAGA
In der indischen Musik ist das Phänomen RAGA im Vergleich zu anderen Musikkulturen der auffälligste Unterschied. Dieses oft als Melodienmodell bezeichnete Phänomen geht jedoch deutlich über den Aspekt eines melodischen Modells hinaus.
Die Definition für Raga aus der Sangeeta-Sastra (800 - 900 n. Chr.) lautet: Die besondere Melodie, die durch Töne und ihre Kombinationen ausgezeichnet ist und die Gedanken der Menschen färbt, diese wird von den Weisen als Raga bezeichnet. Raga ist eine durch besondere Regeln festgelegte Kombination aufeinander folgender Töne, die jeweils einer inneren Einstimmung entspricht.
Eine typische RAGA-Darbietung besteht aus zwei großen Teilen:
1. ALAP = Das „Kennenlernen“ und
2. BANDISA = Vokalkomposition durch einen bestimmten TALA-gebundenen Teil einer RAGA-Darbietung. Im Verlauf der Darbietung wird das Tempo gesteigert.

Aus Tagores Lebenserinnerungen: 4. Dienstbotenherrschaft.

„Eine Persönlichkeit ist mir lebendig im Gedächtnis geblieben. Sein Name war Iswar. Er war früher Dorfschulmeister gewesen. Den Kopf leicht geneigt, pflegte er seine sorgfältig gewählten Worte mit tiefer Stimme langsam auszusprechen. Die Erwachsenen machten sich hinter seinem Rücken über seine literarische Sprechweise lustig. Dieser ehemalige Schulmeister hatte ein Mittel entdeckt, uns des Abends ruhig zu halten. Jeden Abend versammelte er uns um die gesprungene Öllampe und las uns Geschichten aus dem „Ramajana“ oder „Mahabharata“ vor.“

Singen lernte Rabindranath Tagore bei dem alten Sänger Srikanta Babu.


Dr. Banerjee:

Ein großer Teil der von Tagore komponierten Lieder basiert auf RAGA und TALA der klassischen Musik, jedoch beeinflussten ebenso die religiöse Musik Bengalens, die bengalische Volksmusik und schließlich die europäische Musik sein Schaffen erheblich.

Tagore befreite sich dabei von traditionellen Regeln und entwickelte einen unverkennbaren persönlichen Stil. Religiöse Themen, die Liebe, die verschiedenen indischen Feste, die sechs indischen Jahreszeiten und die Natur sind Inhalte seiner Liedtexte.

Rabindranath wurde in der Tradition der Raga-Musik ausgebildet, die in den meisten Fällen die Grundlage seiner Kompositionen bildete. Mit stärkerer Betonung textlicher Komponenten passte er die strengen Grundlagen der Raga-Musik dem textlichen Gehalt an.

In der indischen Musik ist es üblich, Wissen mündlich zu vermitteln. Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Lehrer-Schüler-Beziehung (guru-sisya-parampara). Tagore selbst unterrichtete mündlich, ließ aber seine Texte und Kompositionen schriftlich fixieren.

Schon Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die ersten Schallplattenaufnahmen mit Rabindra-Liedern gemacht. Noch heute sind 14 Tonaufnahmen von Rabindranath selbst bekannt. Daneben existieren zahlreiche Tonaufnahmen von direkten Schülern von Rabindranath.

Aus Tagores Lebenserinnerungen: 10. Srikantha Babu.

„Um diese Zeit hatte ich das Glück, einen Zuhörer zu haben, wie ich ihn nie wieder finden werde. Der alte Mann glich einer vollkommen reifen Mango-Frucht, einer Alfonso-Mango, ohne jede Spur von Säure und ohne jegliche grobe Faser im Gewebe. Sein mildes, glattrasietes Gesicht wurde von einer alles überziehenden Glatze abgerundet; keine Spur eines Zahnes belästigte das Innere seines Mundes, und seine großen lächelnden Augen glänzten von beständigem Entzücken. Wenn er mit seiner weichen, tiefen Stimme sprach, so sprach alles mit: sein Mund, seine Augen und seine Hände.
Er war von alter persischer Kultur – Farsi war früher Amtssprache in Indien - und verstand kein Wort Englisch. Seine unzertrennlichen Gefährten waren eine Wasserpfeife in seiner Linken und eine Zither auf seinem Schoß; und aus seiner Kehle floss unermüdlicher Gesang.
Im Singen war ich Srikantha Babus Lieblingsschüler. Er hatte mich ein Lied gelehrt: „Vorbei sind für mich die fröhlichen Spiele“, und nun schleppte er mich in jedermanns Zimmer und ließ mich vorsingen.“


Tagore über die Aufgabe des Lehrers:
„Die Hauptaufgabe des Lehrers ist nicht, Bedeutungen zu erklären, sondern an die Tür des Geistes zu klopfen.“


Aus Tagores Lebenserinnerungen: 13. Mein Vater.

„Ich kann mich an viele Dinge erinnern, die ich nicht verstand, aber die mich tief bewegten. Als ich einstmals mit meinem ältesten Bruder auf der Dachterrasse unserer Villa am Fluss stand und plötzlich dunkle Wolken sich zusammenballten, rezitierte er laut einige Strophen aus Kalidasas „Wolkenboten“. Ich verstand kein Wort in Sanskrit, brauchte es auch nicht. Sein ekstatischer Vortrag des klangvollen Rhythmus war mir genug.

„Einst begleitete ich meinen Vater auf einer Gangesfahrt in seinem Hausboot. Unter Büchern, die er bei sich hatte, war eine alte Fort-William-Ausgabe des Gita-Govinda von Dschajadeva. Sie war in bengalischen Typen gedruckt. Die Verse waren nicht abgesetzt, sondern liefen wie Prosa weiter.

Ich musste das kunstvoll verschlungene Metrum Dschajadevas selbst herausfinden. Und dies Herausfinden machte mir große Freude. Natürlich konnte ich den Sinn nicht ganz verstehen. Ich darf wohl kaum behaupten, dass ich ihn auch nur zum Teil verstand. Doch der Klang der Worte und der rhythmische Fluß des Metrums zauberten Bilder von wunderbarer Schönheit vor meine Phantasie und bewog mich, mir das ganze Buch abzuschreiben.“

Dr. Banerjee:
Musik bei Rabindranath.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind Tagore Lieder aus dem täglichen Leben der Bengalen nicht mehr wegzudenken, überall im bengalischprachigen Raum werden sie im Alltag und zu verschiedenen Anlässen gesungen und gehört. Die Lieder von Tagore werden in Bengalen als „Rabindra Sangeet“ bezeichnet.

Ein Lied über die LIEBE - Die Übersetzung lautet:

Ich höre jemanden Flöte spielen.
Die Flöte spielt : „ich liebe, ich liebe“
Ich höre diese Melodie in der Nähe, in der Ferne,
Über dem Wasser, auf dem Land:
Ich liebe, ich liebe..
Es ist eine traurige Melodie,
denn die Liebe geht nicht in Erfüllung.
Der Himmel weint wie eine Frau mit schwarzen Augen -
Diese Frau weint, weil ihre Liebe keine Erfüllung findet.

Rabindranath Tagore
Trennung (Übertragung: Dr. Martin Kämpchen)

Als die Nacht vorüber war,
standest du an meinem Tor.
Als du Abschied nahmst,
habe ich geschenkt dir jeden Gesang,
der mir gelang.
Lächelnd hast du in meine Hand
zur Trennung deine Flöte gelegt.
Da erhebt sich vom nächsten Tage,
im Frühling und Herbst,
am Himmel und im Wind laut eine Klage.
Weinend wandert ein Flötenklang
auf der Suche nach seinem Gesang.

Aus Tagores Lebenserinnerungen: 19. Literarische Gefährten.

„Mein Bruder pflegte eine Zeitlang ganze Tage am Klavier zu sitzen, in die Schöpfung neuer Melodien vertieft. Sie quollen in reichen Fluten unter seinen tanzenden Fingern hervor, während unser Freund Akschay Babu und ich zu beiden Seiten saßen und versuchten, Worte für die sich formenden Melodien zu finden, um sie leichter im Gedächtnis festzuhalten. So absolvierte ich meine Lehrzeit im Liederkomponieren.“

Aus Tagores Lebenserinnerungen: 28. Europäische Musik.

„Es ist, als ob die europäische Musik mit dem materiellen Leben verwoben wäre, dass der Text ihrer Lieder so mannigfaltig ist wie das Leben selbst. … unsere Melodien gehen über die Schranken des alltäglichen hinaus, und nur darum können sie uns zu tiefstem Weh und höchster Wonne tragen. Denn ihre Aufgabe ist es, uns einen Blick in die geheimnisvolle, unergründliche Tiefe unsres Wesens tun zu lassen, wo der Fromme seine Einsiedlerzelle bereit findet, und selbst der Epikureer seine Laube, doch wo für den weltlichen Geschäftsmann kein Raum ist.“

Später, als Familienvater und Leiter der westbengalischen Ländereien seiner Familie in Santiniketan, sozusagen als Geschäftsmann, sucht er diese tiefe innere Ruhe.

Rabindranath Tagore
Pause (Übertragung Dr. Hermann Weller)

Erlaube mir, nur eine kurze Zeit
Ganz dir mich zuzuwenden:
Das Werk, der schwebenden Stunde geweiht,
Ich will es später vollenden.

Bin ich ferne von deinem Angesicht,
Dann find ich nicht Ruhe noch Rast,
Mein Werk, es sichtet das Ufer nicht
Im Meere der Mühe und Last.

Sein Summen und Seufzen trägt heute zu mir
Der Sommer zum Fenster herein;
Die Bienen murmeln ihr Minnebrevier
Im Tempel, dem blühenden Hain.

O, jetzt ist es Zeit, sich der Muße zu weihn:
Ich schmiege mich ganz dir zu
Und singe dir dar mein Leben und Sein
In der schweigenden, schwelgenden Ruh.

Sein enger Kontakt zur westlichen Kultur beeinflusste Rabindranath später in seinen lyrischen und musikalischen Werken, er fand neue Formen, in denen er das beste beider Welten miteinander verwob, so verband er etwa in seinem ersten musikalischen Spiel ''Das Genie des Valmiki'' irische Volkslieder mit klassischer indischer Musik.

Er spielte die Rolle des Valmiki selbst. Später gründete er eine Theaterschule, er schrieb neun Dramen, die alle aufgeführt wurden. Dabei wurden die weiblichen Rollen allesamt auch von Frauen (meist seiner eigenen Familie) gespielt – ein Novum und Tabubruch in der bengalischen Gesellschaft seiner Zeit. ...

Als junger Student erhielt Rabindranath Tagore, nach der Rückreise von seinem ersten Englandaufenthalt, die Einladung vor der Béthune-Gesellschaft in Kalkutta einen Vortrag über Musik zu halten.

Aus Tagores Lebenserinnerungen: 31. Ein Vortrag über Musik.

„Indem ich die Instrumentalmusik beiseite ließ, versuchte ich dazulegen, wie Ende und Zweck aller Vokalmusik sei, das, was die Worte auszudrücken suchten, noch besser herauszubringen. - Doch ich muss heute bekennen, dass die Ansicht, die ich an jenem Abend mit solcher Begeisterung vertrat, falsch war. - Da die Musik in sich reich genug ist, weshalb sollte sie dem Worte dienen? Ihre Aufgabe beginnt vielmehr da, wo Worte versagen; ihre Macht liegt auf dem Gebiet des Unaussprechlichen, sie sagt uns, was Worte nie sagen können. Je weniger daher ein Lied mit Worten belastet ist, desto besser.“

Dr. Banerjee:
Ein zweites Rabindra Sangeet:
Ein Lied über die SEHNSUCHT
„ Choche amar trishna
Trishna amar bokho jure,ami bristi bihin baisakhi din”

Die Übersetzung lautet:
Ich verdurste, weil ich kein Wasser zu trinken habe.
Du bist das Wasser, das ich brauche um meinen Durst zu löschen.
Ich bin ein trockener Tag im Sommermonat Boisakh,
denn der Monsunregen ist noch nicht da.

Rabindranath Tagore
aus dem Gitanjali (Übertragung: Dr. Martin Kämpchen)

Daß ich nur Dich begehre, Dich allein,
Das laß mein Herz ohn' Ende wiederholen.
Und alle meine Wünsche, die bei Tag und Nacht
von Dir mich lenken, falsch und hohl
bis in das Mark sind sie.

So wie die Nacht in ihrem Dunkel die Bitte
Um das Licht verborgen hält, so klingt
Aus meiner Seele unbewußten Tiefen
Der Schrei: „Ich brauche Dich, nur Dich allein!“

So wie der Sturm sein Ziel im Frieden sucht,
Auch wenn er auf den Frieden schlägt mit Macht,
Genauso schlägt mein Aufruhr gegen Deine Liebe,
Und kennt doch nur den einen Ruf, den einzigen:
„Ich brauche Dich, nur Dich allein!“

Dr. Banerjee:
Der TANZ bei Rabindranath.
Der klassische indische Tanz ist „Göttertanz“: Die Menschen tanzen für die Götter, imitieren sie oder werden von ihnen besessen.

Der indische Tanz ist Körpersprache. Tatsächlich unterhalten sich einige Tänzer nur mit ihrem Repertoire an Gesten.
Die Grundlagen für die Tanzdarbietungen der indischen Tänze wurden von dem Meister BHARAT im 2. Jahrhundert n. Chr. in dem Lehrbuch „Natyasastra“ festgeschrieben.
Danach sollen Tänzerinnen und Tänzer Gefühlshaltungen, BHABAs, körpersprachlich so echt hervorbringen, dass sie beim Publikum bestimmte Gefühlszustände, RASAs, auslösen. Der Gefühlszustand „Verliebtsein“ zum Beispiel wird durch lächelnde Blicke, verführerische Handgesten und kokette Bewegungen erzeugt.

Wie in der Musik ging Rabindranath auch bei dem Tanz einen eigenen Weg: Er erfand eine neue Tanzrichtung und nannte sie „NRITYA NATYA“, eine Mischung von Ballett und Operette.

Die bekanntesten Stücke sind:
Balmike prativa: Thema: Ramayana
Chitrangada (1936): Thema: Rolle der Frau in der indischen Gesellschaft
Chandalika (1938): Thema: Abschaffung des Kastensystems
Shyama (1939): Thema: Konflikt zwischen Hindus und Muslims

Für die Aufführungen der Stücke schrieb er auch die Choreographie.

Rabindranath war ein Pionier der bengalischen Bühne: Zu seiner Zeit war der klassische indische Tanz in der bengalischen Gesellschaft wegen der verrufenen Tempeltänzerinnen nicht salonfähig. Tagore hatte Mädchen aus gutbürgerlichen Familien persönlich die Kunst des Tanzes gelehrt. Sie durften als Tanzgruppen innerhalb und außerhalb von Indien reisen, um ihre Tanzkünste zu zeigen.

Die Tanzdramen von Tagore sind gekennzeichnet durch den für damalige Verhältnisse unkonventionellen Einsatz indischen Tanzes. Tagore verschmolz Elemente verschiedener indischer Tanzstile zu einem eigenständigen Stil, der Inhalten und Ausdrucksmöglich-keiten seiner Liedtexte angepasst ist.
Dieser Stil wird noch heute an der Visva Bharati Universität in Santiniketan unterrichtet.




Rabindranath Tagore
aus dem Gitanjali Nr. 70 (Übertragung: Dr. Martin Kämpchen)


Ist es zu viel für dich, fröhlich zu sein
Im Schwung dieser fröhlich tanzenden Reih'n?
Gestoßen, geworfen, verloren zu werden
Im Wirbel der schmerzenden Tanzgebärden?

Alles eilt rasch wie der Augenblick,
Da hält nichts still, da schaut nichts zurück;
Keine Macht hält die eilenden Dinge auf,
Sie stürzen weiter in wirbelndem Lauf.

Mit einer Musik ohne Rast und Ruh
Tanzen die Jahreszeiten uns zu,
Um wieder zu gehen. Und Töne und Farben
Und Düfte werfen Kaskadengarben
In ein überströmendes Freudenglück,
Das gibt, stirbt, wird jeden Augenblick.

Aus Tagores Lebenserinnerungen: 32. Am Ganges.

„Als ich von dem Anlauf zu meiner zweiten Englandreise zurückkehrte, wohnte mein Bruder Dschjotirinda mit seiner Frau in einer Villa am Flusse in Tschandernagur, und dort besuchte ich sie.

Jene lieblichen Tage am Ufer des Ganges glitten dahin wie geweihte Lotusblumen, die den heiligen Strom hinabtreiben. Ich verbrachte manchen Regennachmittag, indem ich die alten Wischnu-Lieder eins nach dem andern zu meinen eigenen Melodien sang und mich dabei auf dem Harmonium begleitete. An anderen Nachmittagen ließen wir uns in einem Boot den Fluss hinabtreiben; ich sang, und mein Bruder Dschjotirinda begleitete meine Lieder mit seiner Geige. Wir begannen mit der Puravi-Weise und wechselten die Weise unserer Musik, wie der Tag sich neigte, und als wir die Behaga-Weise anstimmten, sahen wir den westlichen Himmel die Tore seines goldenen Märchenschlosses schließen und im Osten über den Saum von Bäumen den Mond heraufsteigen.
Das oberste Zimmer des Hauses lag in einem runden Turm, mit Fenstern nach allen Seiten. Dies war mein Dichterzimmer… Ich dichtete damals eifrig an meinen Abendliedern.“


Rabindranath Tagore
aus dem Gitanjali Nr.8 (Übertragung: Dr. Martin Kämpchen)


Es war ein Flüstern früh am Tag,
Wir sollten segeln auf dem Meer,
Nur Du und ich,
Und keiner sollte wissen,
Niemand auf der ganzen Welt,
Von unsrer Pilgerfahrt nach keinem Land
Und keinem Ziel.

In diesem Weltmeer ohne Küsten,
Bei Deinem Schweigen, das im Lauschen lächelt,
Erheben sich zu Melodien meine Lieder,
Wie Wogen frei und frei von aller Worte Fessel.

Ist die Zeit dazu noch nicht gekommen?
Gibt es noch Arbeit – ungetane?
Denn sieh, der Abend senkt sich nieder auf den Strand,
Und mit dem Abschiedsblick des Lichtes kommen
Die Möwen, ihre Nester suchend.

Wer weiß denn, wann die Ketten fallen
Und unser Boot, wie letzter Schein des Sonnenuntergangs
Dahinschwebt in die Nacht?

Rabindranath Tagore
Flucht zur Ruhe (Übertragung: Dr. Martin Kämpchen)

Der turbulente Tag bewegt sich hin zur Nacht.
Die sprudelnde Quelle rinnt und sucht das Meer.
Im Frühling wartet die Blume ängstlich auf die Frucht.
So eilen alle rastlosen Dinge zur ruhigen Fülle.

Aus Tagores Lebenserinnerungen: 33. Noch einiges über die Abendlieder.

„Die Traurigkeit und der Schmerz, die in den Abendliedern Ausdruck suchten, hatten ihre Wurzeln in der Tiefe meines Wesens. Wie das schlaferstickte Bewußtsein mit einem Alpdruck ringt und zu erwachen sich müht, so sucht auch das innere Selbst sich von Hemmungen zu befreien und ans Licht zu kommen. … Wo der Schmerz der Disharmonie sich in Harmonie zu lösen und diese Auflösung zum Ausdruck zu bringen sucht, dort bricht die Poesie als Musik hervor, wie der Atem, der durch die Flöte geht.“

Das Publikum fand Tagores Morgenlieder, namentlich „Das Echo“ schwer verständlich. Zunächst entgegnet Tagore, Gedichte könne man ebensowenig erklären wie Blumenduft: „Wenn jemand eine Blume riecht und sagt, er verstehe das nicht, so kann man ihm nur antworten: Da ist nichts zu verstehen, es ist nur ein Duft.“

In seinen Lebenserinnerungen (34. Morgenlieder) gibt er eine wunderbar poetische Erklärung, wie „Das Echo“ gemeint ist:

„Wenn aus dem Urquell in den Tiefen des Weltalls Ströme von Melodien sich ins All ergießen, so wird ihr Echo von dem Antlitz unserer Lieben und von allem Schönen ringsum in unser Herz zurückgeworfen. Dies Echo, das wollte ich sagen, muss es sein, was wir lieben, und nicht die Dinge selbst, die es zufällig zurückwerfen.
Wenn der Künstler sein Lied aus der Tiefe eines vollen Herzens hinaussendet, das ist wahrhaft Freude. Und die Freude wird verdoppelt, wenn dieses selbe Lied ihm aus fremdem Munde zurückklingt. Wenn die Schöpfung des Weltdichters so in einer Flut von Freude zurückkehrt und wir sie über unser Bewusstsein hinfluten lassen, so spüren wir unmittelbar, auf unsagbare Weise, welchem Ziel diese Flut zuströmt. Und sobald wir dies spüren, macht unsre Liebe sich auf und löst unser Selbst von seiner Vertäuung, das nun mit dem Strom der Freude seinem unendlichen Ziel zutreiben möchte. Dies ist es, was die Sehnsucht, die sich beim Anblick von Schönheit in uns regt, bedeutet.
Der Strom, der aus dem Unendlichen kommt und sich ins Endliche ergießt – das ist das Wahre, das Gute; es ist Gesetzen unterworfen und hat seine bestimmte Gestalt. Sein Echo, das zum Unendlichen zurückkehrt, ist Schönheit und Freude, die schwer zu fassen oder festzuhalten sind und uns daher über uns selbst hinausheben. Dies ist es, was ich im Echo in Gestalt eines Gleichnisses oder eines Liedes zu sagen versuchte.“

Rabindranath Tagore
Sonne und Tautropfen (Übertragung: Dr. Martin Kämpchen)

„Sonne, wer außer dem Himmel vermag dich zu fassen?
In meinen Träumen kann ich dich schauen,
doch dir zu dienen ist mir nicht möglich“ -
spricht weinend der Tau.
„O Sonne, dich zu binden in mir, liegt nicht in meiner Macht.
Verglichen mit dir, ist mein Leben winzig wie eine Träne.“

„In unendlichen Strahlen schenke ich der Erde mein Licht.
Dennoch lass ich in einem Tropfen Tau mich fangen,
und neige mich gütig dir zu“ -
spricht lächelnd die Sonne.
„So klein werd ich mich machen,
dass ich ganz in dir mich löse.
Dein winzig´ Leben aber will ich riesig dehnen
mit deinem ewig leuchtenden Lächeln.“

* * *
Verschämt liebt der Waldschatten das Licht.
Das erzählen die Blätter den Blumen; die lachen übers ganze Gesicht.

* * *
Viele Kinder kommen im Hof des Tempels zusammen.
Gott vergisst die Priester, er schaut auf die Spiele der Kinder.

Tagore: „Alle meine Dichtungen haben dasselbe Grundthema – die Freude, das Unendliche im Endlichen zu finden.“


Rabindranath Tagore
Kinder am Weltmeer (Übertragung: Dr. Martin Kämpchen)

Am Strand des Weltmeers
treffen die Kinder sich.

Unbewegt spannt sich weit
über den Köpfen der unendliche Himmel.
Das tiefblaue Wasser Schäumt empor
und tanzt den Tag entlang.
Was für ein Aufruhr dort an der Küste?
Dort treffen die Kinder sich.

Sie bauen Häuser aus Sand,
mit Muscheln spielen sie.
Auf dem Wasser, so blau und so endlos,
lassen sie kleine Boote treiben,
mit leichten Händen basteln sie
aus Blättern kleine Flöße.
Am Strand des Weltmeers
treffen die Kinder sich.

Sie können nicht schwimmen,
auch die Netze nicht werfen.
Die Taucher suchen tauchend nach Perlen,
die Händler reisen in ihren Schiffen vorüber –
die Kinder aber sammeln Kiesel, nur um sie
zu kleinen Haufen zu schichten.
Sie fragen nicht nach dem Wert von Edelsteinen,
sie können die Netze nicht werfen.

Der Schaum spritzt hoch, es lacht das Meer,
es lacht auch der Meeresstrand.
Den Kindern sind die riesigen Wogen
wie Verse aus flüssigen Tönen,
wie die Lieder einer Mutter, die ihre Kinder
auf der Schaukel bewegt.
Das Meer spielt mit den Kindern,
es lacht der Meeresstrand.

Am Strand des Weltmeers
treffen die Kinder sich.
Ein Regenbogen deckt den Himmel zu,
Schiffe kentern in endloser Ferne,
ein Engel des Todes fliegt auf –
aber die Kinder spielen und spielen.
Am Strand des Weltmeers
feiern die Kinder ihr großes Fest.

Aus Tagores Lebenserinnerungen: 38. Bilder und Lieder.

„Ein Kommentar zu den Morgenliedern. Oder sagen wir besser so: Wenn die Saiten der Seele richtig zum Weltall gestimmt sind, so kann seine Musik sie an jedem Punkte zu harmonischerm Mitschwingen bringen. Diese Musik, die in mir geweckt war, bewirkte, dass ich nichts als alltäglich oder gering empfand. Alles, worauf mein Blick fiel, fand in mir sein Echo. Wie Kinder mit Sand oder Steinen oder Muscheln, oder was sie sonst bekommen können, spielen – denn der Geist des Spiels ist in ihnen - , so erkennen auch wir, wenn das Lied der Jugend in uns klingt, dass die Harfe des Weltalls ihre mannigfach getönten Saiten überall aufgespannt hat, und dass wir zu unserer Begleitung nur die nächste anzuschlagen und nicht weiter zu suchen brauchen.“